Die krisensichere Supply Chain – ein Mythos?

Die krisensichere Supply Chain – ein Mythos?

Die Krisenfestigkeit von Versorgungsketten war in den letzten Jahrzehnten kein breit diskutiertes Thema. Mit dem Ausbruch der COVID-19 Pandemie hat sich das schlagartig geändert. Das erste Mal seit ich mich zurückerinnern kann (und ich bin immerhin auch schon Mitte vierzig) standen wir vor leeren Regalen. Die „Klopapierkrise“ war an sich kein Problem der Versorgungskette, sondern irrationaler Hamsterkäufe. Trotzdem hat sie aber plakativ gezeigt, dass es eben nicht selbstverständlich ist, immer alles verfügbar zu haben. Ein deutlich ernsteres Thema, durch das das Thema Logistik allgemein ins Gespräch kommt, ist die Verteilung der Impfstoffe gegen COVID-19. Zweifellos eine herausfordernde Aufgabe, in Europa und ähnlich wohlhabenden Regionen der Erde wird die Logistik aber nicht der limitierende Faktor sein. Für die ärmeren Regionen kann die Verteilung aber durchaus zum Problem werden sobald die Herausforderung der Impfstoffbeschaffung gelöst wird.

Vor nicht mal 2 Wochen blockierte eines der weltweit größten Containerschiffe den Sueskanal. Der Kanal ist eine für globale Supply Chains lebenswichtige Transportader – aber auch seit seinem Bau ein Nadelöhr des Welthandels. Deutlich längere Transportwege und dadurch höhere Kosten sowie eine Verknappung verfügbarer Transportressourcen durch die längeren Laufzeiten sind die Folge. Dazu kamen auch noch das Risiko von Piratenüberfällen auf der Alternativroute. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft sind bereits jetzt enorm, hunderte Schiffe mussten tagelang auf beiden Seiten des Sueskanals auf die Weiterfahrt warten.

Durchaus der richtige Zeitpunkt sich der Krisensicherheit von Supply Chains zu widmen. Was ist eigentlich eine Krise, wie kann die Krisenresistenz von Versorgungsketten erhöht werden und ist die absolut krisensichere Supply Chain überhaupt möglich?


Was ist eine Krise?

Die Beantwortung dieser Frage ist meiner Meinung nach sehr subjektiv. Um eine Krise als solche zu erkennen müssen die negativen Auswirkungen, bereits vorhandene oder zu erwartende, erkannt werden. Die Dimension der Krise in der eigenen Wahrnehmung hängt in weiterer Folge von der eigenen Empathie für die tatsächlich Betroffenen und, in erster Linie, von der eigenen Betroffenheit durch die (möglichen) Auswirkungen der Krise ab. Je näher Auswirkungen an uns herankommen umso präsenter werden Krisen für uns, umso subjektiv wichtiger wird die Krisenbewältigung.


Geographische Ausbreitung von versorgungskettenrelevanten Krisen

Krisen können sich von einem lokalen Ereignis bis hin zum globalen Problem manifestieren. Für die jeweils Betroffenen macht das am ersten Blick nicht viel Unterschied, bei genauerer Betrachtung sind die Unterschiede aber von eminenter Bedeutung.

Aus Logistiksicht macht es einen großen Unterschied an welcher Stelle der Supply Chain die Auswirkungen eintreten. Habe ich Probleme am Start der Versorgungskette kann auch ein geographisch eng begrenztes Ereignis Auswirkungen auf meine Lieferfähigkeit haben, und zwar weltweit. Schlimm ist es, wenn ein solches Ereignis Auswirkungen auf eine ganze Branche hat, wie kürzlich z.B. der Brand in einer die Automobilindustrie beliefernden Halbleiterfabrik – zu einer Zeit als in diesem Bereich bereits Versorgungsengpässe an der Tagesordnung waren. Noch schlimmer ist es, allein von solch einem Ereignis betroffen zu sein, der Mitbewerb im Gegensatz zum eigenen Unternehmen also uneingeschränkt lieferfähig bleibt. Verlorene Kunden, die aufgrund eigener Lieferengpässen beim Mitbewerb kaufen, muss man erst wieder überzeugen und zurückgewinnen.

Krisenauswirkungen am Ende der Supply Chain sind für die jeweils lokalen Abnehmer nicht minder problematisch, für das liefernde Unternehmen ist die Auswirkung aber auf das Gesamte gesehen geringer da andere Regionen/Märkte versorgt werden können. Natürlich gilt auch hier die Unterscheidung ob die Probleme allein in meiner Supply Chain zum Kunden liegen oder auch der Mitbewerb die Leistung nicht erbringen kann da z.B. die Region aufgrund von Umwelteinflüssen aktuell nicht erreichbar ist.


Wie können Risiken für die Supply Chain minimiert werden?

Prinzipiell sehe ich zwei Ansätze: Maßnahmen, um die Risiken auszuräumen und die Minimierung der Auswirkungen durch Risikoteilung.

Um das Risiko zu minimieren muss ich im ersten Schritt definieren welche Risiken und Auswirkungen denkmöglich sind. Vieles ist wahrscheinlich, einiges unwahrscheinlich, weniges unmöglich – und das Eine oder das Andere wird nicht erkannt. Welche Risiken man übersehen hat erkennt man aber leider zumeist erst wenn Sie tatsächlich schlagend werden.

Im zweiten Schritt empfehle ich, absteigend nach Auswirkung und Wahrscheinlichkeit, ein Risiko nach dem anderen zu analysieren. Mögliche Maßnahmen zur Ausschaltung des Risikos oder Abschwächung der Auswirkungen werden definiert und, sofern diese in der Kosten/Nutzen-Betrachtung Sinn machen, umgesetzt.

Manchmal ist es möglich Risiken durch Prozessänderungen zu minimieren, oft ist es aber die Schaffung eines „Plan B“ nötig. Das Risiko wird dadurch nicht ausgeschaltet, sondern auf mehrere, voneinander möglichst unabhängige, Einheiten verteilt. In der Informationstechnologie ist diese Risikoteilung seit langer Zeit Standard. Jedes namhafte Unternehmen, mit dem ich bislang arbeiten durfte, baut in der IT auf zumindest zwei räumlich deutlich getrennte Rechenzentren mit Datenspiegelung oder vergleichbare Cloud-Lösungen. Das ermöglicht das Weiterarbeiten mit geringen oder auch ohne Auswirkungen bei Ausfall eines Rechenzentrums. In der Logistik ist dieser Ansatz noch nicht so weit verbreitet, es ist aber mit physisch vorhanden Gütern auch um einiges schwieriger solche Konzepte zu implementieren als bei Daten und Rechenleistung. Je spezifischer mein Produkt, umso schwieriger ist es kurzfristig auf andere Bezugsquellen umzustellen. Je weniger Komplexität, je weniger Interessen berücksichtigt werden müssen, umso leichter wird es Lösungen zu finden. Je weiter die Transportwege, je mehr Verkehrswege, je mehr Wirtschaftsbereiche, je mehr Länder und Grenzen involviert sind, umso mehr Einflussfaktoren es also gibt, umso schwieriger wird es echte Krisensicherheit herzustellen.


Single Sourcing vs. Multi Sourcing

Je größer die Abnahmemenge umso günstiger die Kosten pro Einheit. Für einen Großteil der Warentransaktionen trifft diese Aussage wohl zu. Wenn man dann weitere Faktoren wie Transportkosten zum jeweiligen Bedarfsort und die Transportzeit berücksichtigt ist das zwar nicht mehr allgemein gültig, aber immer noch oft zutreffend. Daraus resultierend lässt sicher der Trend zum Single Sourcing ableiten. Der gesamte Bedarf wird also aus einer Quelle gespeist. Um genauer zu sein würde ich bei der Definition des Single Sourcing auch noch das jeweilige Absatzgebiet hinzufügen. Auch wenn ich global gesehen das gleiche Produkt bei mehreren Lieferanten beziehe aber einen dezidierten Lieferanten z.B. pro Kontinent habe und der Austausch zwischen diesen geographischen Bereichen nicht ohne weiteres möglich ist, würde ich das in Bezug auf Risiken für und Auswirkungen auf die Supply Chain als Single Sourcing kategorisieren. Kurz gesagt: Wenn bei Single Sourcing der Lieferant nicht liefert (unabhängig ob nicht produziert wird oder die Ware nicht zu meinem Unternehmen geliefert werden kann) ist die Ware und alle Folgeprodukte nicht verfügbar.

Ein zuvor kaum betrachtetes Risiko des Single Sourcing musste vor einigen Jahren einer der großen deutschen Automobilhersteller erkennen. Die eigene Marktmacht stößt an Grenzen, wenn man in einigen Bereichen von jeweils nur einem einzigen Zulieferer abhängig ist. Nach einem Streit hat einer dieser Single Sourcing Zulieferer die Lieferungen an den Automobilkonzern eingestellt. In Folge musste die Automobilproduktion in mehreren Werken tagelang eingestellt werden – bis man sich mit dem Lieferanten entsprechend einigen konnte.

Die Vor- und Nachteile des Single Sourcing gelten nicht nur für die Beschaffung, sondern sinngemäß für die gesamte Supply Chain. Beispiel Lagerhaltung: Habe ich meine gesamten Bestände oder auch nur die Gesamtbestände einzelner Artikel an nur einem Standort gelagert bin ich in Krisensituationen (Brand des Lagers, Unpassierbarkeit der Zufahrtswege, …) nicht lieferfähig.

Im Gegensatz dazu steht das Multi-Sourcing. Der Bedarf kann parallel aus unterschiedlichen Quellen gespeist werden. Einerseits reduziert das natürlich die Auswirkung von räumlich begrenzten Krisen, da sich die Abnahmemenge auf mehrere Lieferanten aufteilt steht das aber andererseits oft in Verbindung mit höheren Kosten pro Einheit.


Kosten und Nutzen

Viele Maßnahmen zur Krisenresistenz verursachen zusätzliche Kosten. Es ist wie bei einer Versicherung: Tritt kein Schadensfall (=Krise) ein hat man die Prämien unnötig bezahlt, benötigt man die Leistung der Versicherung war es aber eine gute Investition die überlebenswichtig für das eigene Unternehmen sein kann.

Je größer und geographisch weitreichender das Problem umso wahrscheinlicher ist auch ein negativer Einfluss auf die eigene Supply Chain. Mit ordentlicher Planung kann ich mein Unternehmen aber zumindest fit für die „kleineren Katastrophen“ machen, diejenigen die nicht ganze Regionen oder Branchen betreffen, sondern durch kleinräumige Ereignisse z.B. auch nur mein Unternehmen. So ist z.B. eine Single Sourcing Strategie im Lagerbereich schon problematisch, wenn durch Umwelteinflüsse mein Standort nicht zugänglich ist (z.B. Hochwasser). Längerfristige Probleme kann es verursachen, wenn mein (einziger) Standort z.B. durch Feuer zerstört wird. Nicht nur die Infrastruktur ist zerstört, sondern auch die Warenbestände – und das eigene Unternehmen ist (im Gegensatz zum Mitbewerb) nicht mehr lieferfähig.


Fazit

Die absolut krisensichere Supply Chain ist wohl ein Mythos. Zu viele Einflussfaktoren, zu viele Risiken können komplexen globalen Versorgungsketten zusetzen. Vermutlich ist es nicht realistisch, dass jede Eventualität im Vorfeld identifiziert wird. In mehrstufigen Produktionsprozessen ist auch nicht immer transparent ob nicht vielleicht alle meine Lieferanten (Multi Sourcing) das gleiche benötigte Vorprodukt aus derselben Quelle beziehen (somit wird das unbemerkt wieder zu Single Sourcing). Auch lokal oder global auftretende politische oder wirtschaftliche Ereignisse können die eigene Supply Chain unvorhergesehen beeinflussen.

Vollständige Sicherheit für die Supply Chain sehe ich also nicht. Jedes vorab identifizierte potenzielle Risiko ist aber ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Somit sollte die permanente Arbeite an der Risikoevaluierung und die rechtzeitige Definition von Gegenstrategien zum Standard in jedem auf Logistik angewiesenem Unternehmen werden. Je genauer die wahrscheinlichen Risiken und deren mögliche Auswirkungen erkannt, bewertet und, soweit möglich und wirtschaftlich sinnvoll, verhindert oder mitigiert werden umso weniger äußere Einflüsse können Ihre Supply Chain in Zukunft negativ beeinflussen.

Habe ich Sie inspiriert Ihre Supply Chain krisenresistenter zu gestalten? Ziel erreicht! Ich freue mich sehr über Ihre Rückmeldung zu meinen Blog-Beiträgen und beantworte gerne Ihre Fragen. Wenn Sie Unterstützung in den Bereichen operative Logistik, Logistik-Outsourcing oder IT-Logistik benötigen sind Sie bei mir an der richtigen Adresse. Meine Kontaktdetails finden Sie hier.

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Veröffentlicht am 7. April 2021

Titelbild: Michael Manges

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